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Eleanor rief an, und sofort gingen bei Solanka die emotionalen Abwehrschilder hoch. »Du verstehst es, Liebe zu wecken, Malik«, sagte seine Frau. »Du weißt nur nicht, was du mit ihr anfangen sollst, wenn sie da ist.« Aber noch immer kein Zorn in dieser sanften Stimme. »Ich dachte daran, wie schön es ist, von dir geliebt zu werden. Ich glaube, du hast mir gefehlt, deswegen bin ich froh, daß du zu Hause bist. Ich sehe uns überall, wohin ich auch gehe, ist das nicht dumm, ich sehe uns, wie lange wir doch glücklich zusammen waren. Dein Sohn ist etwas ganz Besonderes. Das findet jeder, der ihn sieht. Morgen findet, daß er überhaupt der beste ist, und du weißt, was Morgen von Kindern hält. Aber Asmaan liebt er wahnsinnig. Das tun alle. Und weißt du, daß er mich ständig fragt: Was würde Daddy sagen? Was würde Daddy denken? Du bist ständig in seinen Gedanken. Und in meinen. Deswegen wollte ich dir nur sagen, daß wir beide dich ganz lieb grüßen.«
Asmaan übernahm den Hörer. »Ich will mit Daddy reden. Hallo, Daddy. Ich hab einen Schnupfen. Deswegen hab ich geweint. Deswegen war Olive nicht hier.« Deswegen ist Olive nicht hier. Olive war die Haushaltshilfe der Mutter, die Asmaan heiß und innig liebte. »Ich hab ein Bild für dich gemalt, Daddy. Das ist für Mummy und dich. Ich werd’s dir zeigen. Es ist rot und gelb und weiß. Ich hab ein Bild für Grandpa gemalt. Grandpa ist tot. Deswegen war er so lange krank. Grandma ist noch nicht tot. Es geht ihr gut. Vielleicht wird sie morgen sterben. Ich werde jetzt ein Stuhljunge, Daddy. Deswegen setze ich mich bald auf einen richtigen Stuhl. Aber noch nicht morgen! Nein. An einem anderen Tag. Es ist ja bloß ein Kinderstuhl. Kein großer. Deswegen muß ich größer werden, für den großen Stuhl. Da gehe ich heute nicht hin! Hmm. Hast du ein Geschenk, Daddy? Vielleicht ist da ein großer Efelant drin. Kann ja sein. Bestimmt ist es ein großer Efelant. Na ja: Wiedersehn.«
Gegen Morgen erwachte er allein im Bett, aufgeweckt durch das Ächzen der Fußbodendielen im Stockwerk über ihm. Irgend jemand war da oben eindeutig ein Frühaufsteher. Solankas Sinne schienen alle Alarmstufe Rot zu haben. Sein Gehör war so übernatürlich scharf geworden, daß er die Piepser des Anrufbeantworters oben, das Wasser aus der Gießkanne der Nachbarin in die Blumenkästen am Fenster und Blumentöpfe im Zimmer plätschern hören konnte. Eine Fliege setzte sich auf seinen unbedeckten Fuß, und er sprang aus dem Bett, als hätte ihn ein Geist berührt, blieb nackt, töricht, verängstigt mitten im Zimmer stehen. Er konnte nicht schlafen. Die Straße war bereits lärmerfüllt. Er duschte lange und rief sich zur Ordnung. Mila hatte recht. Er mußte diese Sache unter Kontrolle bringen. Ein Arzt, er mußte zu einem Arzt gehen und sich entsprechende Medikamente verschreiben lassen. Wie hatte Rhinehart ihn doch scherzhaft genannt? Einen lauernden Herzanfall. Nun ja, streichen wir Herz. Er war zu einem lauernden Anfall geworden. Sein Jähzorn mochte früher einmal komisch gewesen sein, jetzt aber war er wirklich kein Witz mehr. Wenn er bis jetzt noch nichts angerichtet hatte, so konnte es jeden Moment geschehen; wenn die Wut ihn nicht schon ins Land des Unwiderruflichen geführt hatte, würde sie das noch tun, er wußte, daß sie das tun würde. Er hatte ja schon Angst vor sich selbst, und bald würde er alle anderen verscheuchen. Er brauchte nicht der Welt zu entfliehen; sie würde vor ihm davonlaufen. Er würde ein Mensch werden, vor dem die Leute auf die andere Straßenseite auswichen. Was, wenn Neela ihn zornig machte? Was, wenn sie ihn in einem Augenblick der Leidenschaft oben auf dem Kopf berührte?
Hier, am Anfang des dritten Jahrtausends, gab es mühelos Medikamente gegen das Hereinbrechen des Empörenden und Unreifen in das erwachsene Ich. Hätte er früher an einem öffentlichen Ort wie ein Dämon gebrüllt, wäre er womöglich als Teufel verbrannt oder wie eine Hexe mit Steinen beschwert worden, um zu sehen, ob er auf dem East River schwamm. Früher wäre er im günstigsten Fall an den Pranger gestellt und mit verfaulten Früchten beworfen worden. Jetzt brauchte man nur schnell die Rechnung zu bezahlen und konnte wieder gehen. Und jeder gute Amerikaner kannte die Namen eines halben Dutzends wirksamer, stimmungsaufhellender Medikamente. Dies war eine Nation, für die das tägliche Herunterleiern pharmazeutischer Markennamen - Prozac, Halcion, Seroquil, Numscul, Lobotomine - einem Zen-Koan oder dem Aufsagen eines absurd patriotischen Schwurs glich: Ich schwöre Treue der amerikanischen Droge. Was also mit ihm geschah, war mühelos zu verhindern. Deswegen sei es seine Pflicht, würden die meisten Menschen sagen, endlich aufzuhören, eine Gefahr für andere zu sein und wieder ins Leben zurückzukehren. Zu Asmaan, dem Goldenen Kind. Asmaan, dem Himmel, der die beschützende Liebe des Vaters brauchte.
Ja, aber die Einnahme von Medikamenten war wie ein Dunst. Sie war ein Nebel, den man schluckte und der sich um den Verstand legte. Ein Brett, auf dem man sitzen mußte, während die Welt ringsherum weiterging. Sie war ein durchsichtiger Duschvorhang wie der in Psycho. Alles wurde milchig; nein, nein, so war es nicht. Milchig wurde nur man selbst. Solankas Verachtung für dieses Zeitalter der Ärzte machte sich wieder bemerkbar. Man wollte größer sein? Dann brauchte man nur zu einem großen Arzt zu gehen und sich von ihm Metallteile in die langen Knochen legen zu lassen. Zum Dünnerwerden gab es dünne Ärzte, zum Hübschwerden hübsche Ärzte, und so weiter. War das alles? War es das? Waren wir jetzt nur noch Autos - Autos, die sich selbst zum Mechaniker begaben und sich aufmöbeln ließen, wie sie es wollten? Spezialanfertigungen, mit Leopardenmuster auf den Sitzen und Surround-Lautsprechern? Alles in ihm sträubte sich gegen die Mechanisierung des Menschen. War dies nicht genau das, wogegen er seine imaginäre Welt erschaffen hatte? Was konnte ein Seelenklempner ihm schon über sich selbst sagen, was er nicht schon lange wußte? Ärzte wußten überhaupt nichts. Die wollten dich nur wie einen Hund abrichten oder dir eine Haube überstülpen wie einem Falken. Ärzte wollten dich auf die Knie zwingen und sie dir brechen, und wenn du die chemischen Krücken nahmst, die sie dir gaben, würdest du nie wieder auf deinen eigenen zwei Beinen gehen können.
Rings um ihn her redefmierte sich das amerikanische Ich in mechanischen Begriffen, geriet aber überall außer Kontrolle. Dieses Ich sprach ständig von sich selbst und kannte kaum ein anderes Thema. Eine Industrie von Kontrolleuren - Medizinmänner, deren Rolle es war, die Arbeit der bereits zu Zauberern gewordenen Ärzte zu ergänzen und die Lücken zu füllen - waren gekommen, sich um die Probleme ihrer Darbietung zu kümmern. Redefinition war der grundlegende Modus operandi dieser Industrie. Unglücklichsein wurde zu körperlicher Unfitness umdefiniert, Verzweiflung zu einer Frage guter Rückenmuskeln. Glücklichsein war besseres Essen, klügere Möbelauswahl, tiefere Atemtechnik. Glücklichsein war Egoismus. Dem steuerlosen Ich wurde befohlen, sein eigenes Steuer zu sein, dem wurzellosen Ich wurde geraten, sich in sich selbst zu verwurzeln, während alle eindeutig weiterhin für die Dienste dieser neuen Führer, der Kartographen der veränderten Seelenlage von Amerika bezahlten. Natürlich waren die alten Kontrollinstanzen noch immer verfügbar und boten ihre eigenen, vertrauteren Erklärungen an. Der Kandidat der Demokratischen Partei für den Posten des Vizepräsidenten gab den Filmen die Schuld an der nationalen Malaise und lobte dafür Gott. Gott mußte näher ans Zentrum des Lebens im Land herangerückt werden. (Näher? dachte Solanka. Wenn der Allmächtige noch näher an die Präsidentschaft herankam, würde er schließlich am Ende der Pennsylvania Avenue wohnen und den verdammten Job selber machen.) George Washington wurde als Soldat für Jesus exhumiert. Keine Moral ohne Religion, donnerte George, der bleich und erdbedeckt in seinem Grab stand und seinen kleinen Tomahawk hielt. Und in Washingtons Land, sagten die angeblich nicht ausreichend frommen Bürger, wenn sie gefragt wurden, würden über neunzig Prozent von ihnen für einen jüdischen oder homosexuellen Präsidenten stimmen, aber nur neunundvierzig Prozent für einen Atheisten. Lobet den Herrn! Trotz all dieses Geplappers, all der Diagnosen, all des neuen Bewußtseins blieben die stärksten Aussagen dieses neuen, vielartikulierten nationalen Ichs unartikuliert. Denn das eigentliche Problem war der Schaden nicht an der Maschine, sondern am sehnsüchtigen Herzen, und die Sprache des Herzens ging verloren. Ein Übermaß an Herzschäden war das Problem, nicht der Muskeltonus, nicht das Essen, weder Feng shui noch Karma, weder Gottlosigkeit noch Gott. Dies war der Jitterbug, der die Menschen verrückt machte: nicht das Übermaß an Warenangeboten, sondern ihre zerstörten und vergeblichen Hoffnungen. Hier, im Amerika des Überflusses, der echten, lebenden Manifestation von Keats' sagenhaften Goldländern, hier im dublonenschweren Topf, am Ziel aller Wünsche, waren die Erwartungen der Menschen die höchsten in der Menschheitsgeschichte und mußten daher zu Enttäuschungen werden. Wenn Brandstifter Feuer legten, die den Westen des Landes niederbrannten, wenn ein Mann zu einer Waffe griff und wahllos völlig Fremde erschoß, wenn ein Kind eine Waffe nahm und Freunde tötete, wenn Betonbrocken die Schädel reicher junger Frauen zerschmetterten, war diese Enttäuschung, für die das Wort Enttäuschung zu schwach war, der Motor, der die sprachlose Ausdrucksfähigkeit des Killers antrieb. Dies war das einzige Thema: Die Zerstörung der Träume in einem Land, in dem das Recht auf Träume ein nationaler, ideologischer Eckpfeiler war, die langsame Aufhebung aller persönlichen Möglichkeiten in einer Zeit, da die Zukunft sich öffnete und Ausblicke auf unvorstellbare, glitzernde Schätze bot, wie kein Mensch sie sich jemals zuvor erträumt hatte. In den qualvollen Flammen und peinigenden Kugeln hörte Malik Solanka eine wesentliche, ignorierte, unbeantwortete und vielleicht nicht zu beantwortende Frage - dieselbe Frage, laut und lebensvernichtend wie in Munchs Schrei, die er sich soeben selbst gestellt hatte: Ist das alles? War es das? War es das wirklich? Menschen wie Krysztof Waterford-Wajda wachten auf und erkannten, daß ihr Leben nicht mehr ihnen gehörte. Daß ihr Körper nicht mehr ihnen gehörte und daß niemandes Körper auch niemandem mehr gehörte. Sie sahen keinen Grund mehr, nicht zu schießen.
Jene, die die Götter vernichten wollen, machen sie zuerst wahnsinnig. Die Furien dräuten über Malik Solanka, über New York und Amerika und kreischten. Auf den Straßen unten kreischte der Verkehr, menschlicher und unmenschlicher, wütend seine Zustimmung.
Geduscht und ein bißchen ruhiger, erinnerte sich Solanka, daß er Jack noch immer nicht angerufen hatte. Er merkte, daß er das gar nicht wollte. Der Jack, wie er von Neela geschildert worden war, hatte ihn enttäuscht und enerviert, was an sich eigentlich keine Rolle spielen sollte. Sicher, er selbst mußte Jack schon oft enttäuscht, ja durch seinen berühmten Solanka-Jähzorn verärgert haben. Freunde sollten derartige Hindernisse mit Leichtigkeit nehmen; und dennoch griff Solanka nicht zum Telefon. Nun ja, dann war auch er ein schlechter Freund und verlängerte damit die Liste seiner Fehler. Jetzt stand Neela zwischen ihnen. Und das war’s. Ungeachtet der Tatsache, daß sie ihre Beziehung mit Jack gelöst hatte, bevor zwischen ihr und Solanka etwas entstand. Wichtig war, wie Jack es sehen würde, und der würde es als Verrat empfinden. Und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, mußte Solanka zugeben, daß er es ebenfalls als Verrat betrachtete. Außerdem war Neela jetzt auch noch ein Hindernis zwischen ihm und Eleanor. Er hatte sie aus einem offensichtlichen und einem unterschwelligen Grund verlassen: wegen der grauenvollen Tatsache des Messers im Dunkeln und insgeheim wegen der Ehe, wegen der Erosion dessen, was für ihn einst überwältigend gewesen war. Wütendes und neu entbranntes Verlangen ließ sich nur schwer gegen die ruhigere, sanftere alte Flamme aufgeben. »Es muß doch eine andere geben«, hatte Eleanor gesagt; und jetzt gab es eine, gab es Neela. Neela Mahendra, das letzte große, emotionale Wagnis seines Lebens. Nach ihr, falls er sie verlor, wie es vermutlich der Fall sein würde, sah er nur noch eine Wüste, deren weiße Dünen auf ein sandiges Grab zuglitten. Die Gefahren des Unternehmens, gefördert durch den Unterschied in Alter und Herkunft, durch den Schaden, den er genommen hatte, und ihre Launenhaftigkeit waren beträchtlich. Wie entscheidet eine Frau, nach der sich jeder einzelne Mann verzehrt, daß einer genug ist? Gegen das Ende ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte sie gesagt: »Ich habe dies nicht gewollt. Ich bin nicht sicher, ob ich schon bereit dafür bin.« Sie meinte, daß damit ein Gefühl begonnen hatte, so tief und so plötzlich, daß es ihr angst machte. »Das Risiko könnte zu groß sein.« Er hatte den Mund ein wenig zu bitter verzogen. »Ich frage mich«, sagte er, »wer von uns das größere emotionale Wagnis eingeht.« Doch seine Frage bereitete ihr keine Probleme. »Oh, das bist du«, antwortete sie ihm.
Wislawa kehrte an ihre Arbeit zurück. Der sanfte Simon Jay hatte Solanka von seiner Farm aus angerufen, um ihm zu berichten, er und seine Frau hätten die zornige Putzfrau beruhigt, aber ein reumütiger Anruf von Solanka könne nicht schaden. Obwohl er sehr behutsam war, versäumte Mr. Jay es nicht, darauf hinzuweisen, daß der Mietvertrag vorschrieb, die Wohnung sauberzuhalten. Solanka knirschte mit den Zähnen und rief an. »Okay, ich komme, warum nicht«, hatte Wislawa zugestimmt. »Sie können von Glück sagen, daß ich ein weiches Herz habe.« Ihre Arbeit war zwar noch weniger zufriedenstellend als zuvor, aber Solanka sagte kein Wort. In der Wohnung herrschten unausgeglichene Machtverhältnisse. Wie eine Königin kam Wislawa hereingerauscht - wie eine Siegesgöttin, die ihre Fäden durchschnitten hatte -, um nach ein paar Stunden, in denen sie wie eine Herrscherin auf Rundreise durch ihr Land durch das Duplex geschritten war und ihr Staubtuch wie ein königliches Taschentuch geschwenkt hatte, mit einem verächtlichen Ausdruck auf dem knochigen Gesicht wieder zu verschwinden. Die ehemaligen Diener sind jetzt die Herren, dachte Solanka. Wie auf Galileo-I, so in New York.
Seine Phantasiewelt nahm ihn immer mehr in Anspruch. Er zeichnete wie wild, modellierte mit Töpfererde, schnitzte aus weichem Holz; vor allem aber schrieb er, und zwar ungestüm. Mila Milos Truppe hatte begonnen, ihn mit einer Art staunender Ehrerbietung zu behandeln: Wer hätte je gedacht, schien ihr Verhalten zu sagen, daß ein alter Trottel mit Sachen aufwarten konnte, die so hip waren? Selbst der langsame, grollende Eddie machte bei dieser neuen Einstellung mit. Solanka, der sogar von seiner eigenen Putzfrau verachtet wurde, zeigte sich durch den Respekt des jungen Mannes durchaus besänftigt und beschloß, sich dessen würdig zu erweisen. Neela gehörten seine Nächte, doch während des Tages arbeitete er sehr lange. Drei bis vier Stunden Schlaf erwiesen sich als ausreichend. Das Blut schien schneller durch seine Adern zu fließen. Dies, dachte er, verwundert über sein unverdientes Glück, ist die Erneuerung. Das Leben hatte ihm unversehens ein gutes Blatt ausgeteilt, und er würde das Beste daraus machen. Es war Zeit für eine lange, konzentrierte, vielleicht sogar heilsame Phase, die ausgefüllt war mit dem, was Mila als ernsthaftes Spielen bezeichnete.
Die Vorgeschichte der Ereignisse auf Galileo-I hatte ein eigenes produktives Leben angenommen. Niemals zuvor hatte Solanka so sehr ins Detail gehen müssen und wollen. Die Fiktion hielt ihn im Griff, die Figuren selbst erschienen ihm allmählich zweitrangig: kein Zweck mehr, sondern nur noch Mittel. Er, der das Nahen der tapferen neuen elektronischen Welt mit so großen Zweifeln betrachtet hatte, wurde von den Möglichkeiten mitgerissen, welche die neue Technologie ihm bot - mit ihrer formalen Vorliebe für laterale Sprünge und ihrem relativen Desinteresse an linearer Progression, eine Neigung, die bei ihren Benutzern bereits ein größeres Interesse an Variationen als an Chronologie hervorgerufen hatte. Diese Befreiung von der Uhr, von der Tyrannei dessen, was als nächstes geschah, war begeisternd, weil sie ihm erlaubte, seine Ideen parallel zu entwickeln, ohne sich über Zeitabfolge oder Schritt-um-Schritt-Kausalität Gedanken zu machen. Die Links waren jetzt elektronisch, nicht mehr erzählerisch. Alles existierte auf einmal. Dies war, erkannte Solanka, ein exakter Spiegel der göttlichen Erfahrung der Zeit. Bis zum Kommen der Hyperlinks hatte nur Gott Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft simultan sehen können; die Menschen waren im Kalender ihrer Tage gefangen. Jetzt war eine solche Allwissenheit für alle zugänglich - durch einen einzigen Klick mit der Maus.
Auf der Website, die allmählich entstand, würden Besucher frei zwischen den verschiedenen Erzählfäden und Themen des Projekts hin und her wandern können: Zameens Suche nach Akasz Kronos, Zameen gegen die Siegesgöttin, die Erzählung von den beiden Puppenmachern, Mogol der Baburier, die Revolte der Lebenden Puppen I: Der Fall des Kronos, die Revolte der Lebenden Puppen II (Diesmal ist Krieg), die Humanisierung der Maschinen gegen die Mechanisierung der Menschen, die Schlacht der Doubles, Mogol Fängt Kronos (oder Ist Es der Puppenmacher?), der Widerruf des Puppenmachers (oder War Es Kronos?), und das große Finale, die Revolte der Lebenden Puppen III: Der Fall des Mogol-Imperiums. Jede Wendung würde zu weiteren Seiten führen, tiefer in die multidimensionale Welt der Marionettenkönige eintauchen, Spiele anbieten, Video-Ausschnitte zeigen, Chatrooms öffnen und natürlich Kaufangebote machen.
Professor Solanka war vom Sixpack der ethischen Krisen der Marionettenkönige stundenlang berauscht; war fasziniert und zugleich abgestoßen von der sich abzeichnenden Persönlichkeit Mogols, des Baburiers, der sich als kompetenter Dichter, Astronomie-Experte, passionierter Gärtner, aber auch als Soldat Coriolanischen Blutdurstes und als grausamster aller Fürsten entpuppte; und war hingerissen von den Schattenspiel-Möglichkeiten (intellektuell, symbolisch, konfrontatorisch, mystifikatorisch, sogar sexuell) der beiden Double-Gruppen, den Begegnungen zwischen Real und Real, Real und Double, Double und Double, die munter die Auflösung der Grenzen zwischen den Kategorien demonstrierten. Er stellte fest, daß er in einer Welt lebte, die er der da draußen vor seinem Fenster bei weitem vorzog, und begann so allmählich zu verstehen, was Mila Milo gemeint hatte, als sie sagte, daß es dies sei, wo sie sich am lebendigsten fühlte. Hier, innerhalb der Elektrizität, kam Malik Solanka aus dem Halbleben seines Exils in Manhattan hervor, reiste täglich nach Galileo-I und begann wieder zu leben.
Seit Braingirls zensierten Bemerkungen Galileo Galilei gegenüber hatten Solanka Fragen gequält, Fragen über Wissen und Macht, über Kapitulation und Widerstand, Mittel und Zweck. Die Galileo Moments, diese dramatischen Momente, da das Leben die Lebenden fragte, ob sie auch in Gefahr zur Wahrheit stehen oder sie vorsichtig widerrufen würden, schienen ihm immer deutlicher zu machen, was menschlich sein im Kern eigentlich hieß. Mann, ich hätte den Quatsch nicht einfach so hingenommen. Ich, ich hätte eine beschissene Revolution gemacht. Wenn jemand, der die Wahrheit kannte, schwach war und der Verteidiger der Lüge stark, war es dann besser, sich der größeren Macht zu beugen? Oder würde man, indem man sich energisch widersetzte, eine tiefere Kraft in sich selbst entdecken und den Despoten stürzen? Wenn die Soldaten der Wahrheit tausend Schiffe ausschickten und die stumpfen Türme der Lüge niederbrannten, sollten sie dann als Befreier angesehen werden, oder waren sie, indem sie die Waffen ihres Feindes gegen ihn richteten, selbst zu den verachteten Barbaren (oder sogar Baburiern) geworden, deren Häuser sie in Brand gesteckt hatten? Wo lagen die Grenzen der Toleranz? Wie weit konnten wir auf der Suche nach dem, was Recht war, gehen, bevor wir eine Grenze überschritten, zu unseren Antipoden kamen und Unrecht taten?
Kurz vor der Klimax der Vorgeschichte von Galileo-I vertiefte sich Solanka in einen solchen entscheidenden Moment. Akasz Kronos, Flüchtling vor seinen eigenen Geschöpfen, wurde in hohem Alter von den Soldaten des Mogols gefangengenommen und in Ketten vor den baburischen Gerichtshof gestellt. Inzwischen hatten die Marionettenkönige und die Baburier seit vielen Generationen Krieg gegeneinander geführt und standen einander in einem Patt gegenüber, das so entnervend war wie der Trojanische Krieg, und der uralte Kronos, Schöpfer der Cyborgs, wurde für all ihre Taten verantwortlich gemacht. Seine Erklärungen, daß seine Geschöpfe für die Autonomie gekämpft hatten, wurden vom Mogol mit einem kurzen, verächtlichen Schnaufen abgetan. Es folgte nun auf den Seiten, die Solanka schrieb, ein langer Disput zwischen den beiden Männern über die Natur des Lebens selbst - Leben, erschaffen durch einen biologischen Akt, und Leben, entstanden durch die Phantasie und das Können der Lebenden. War das Leben natürlich, oder konnte man sagen, das Unnatürliche sei lebendig? War die Phantasiewelt der organischen immer unterlegen? Kronos war trotz seines Niedergangs und langen, in Armut verbrachten Lebens im Untergrund ein kreatives Genie und verteidigte voll Stolz seine Cyborgs: nach jeder Definition empfindender Existenz waren sie zu voll entwickelten Lebensformen herangewachsen. Wie Homo faber benutzten sie Werkzeuge; wie Homo sapiens argumentierten und engagierten sie sich in Moraldebatten. Sie konnten ihre Krankheiten behandeln und ihre Spezies fortpflanzen, und indem sie ihn, ihren Schöpfer, verjagten, hatten sie sich die Freiheit erkämpft. Der Mogol wies diese Argumente kurzerhand zurück. Ein schlechter Tellerwäscher werde nicht zum Oberkellner, erklärte er. Deswegen sei eine schurkische Marionette immer noch eine Puppe, ein Roboter-Renegat immer noch ein Roboter. Diese Richtung der Diskussion sei nicht angemessen. Vielmehr sei es an Kronos, seine Theorien zu widerrufen und anschließend die baburischen Behörden mit den technologischen Daten zu versorgen, die nötig seien, um die MK-Maschinen unter Kontrolle zu bringen. Wenn er sich weigere, setzte der Mogul, das Thema der Konversation wechselnd, hinzu, werde er natürlich gefoltert und, falls nötig, in Stücke gerissen werden.
Der »Widerruf des Kronos, seine Erklärung, die Maschinen hätten keine Seelen, während der Mensch unsterblich sei, wurde von dem tief religiösen Volk der Baburier als großer Sieg gefeiert. Bewaffnet mit den von dem gebrochenen Wissenschaftler zur Verfügung gestellten Informationen, konstruierte die antipodische Armee neuartige Waffen, die das Nervensystem der Cyborgs lähmten und sie funktionsunfähig machten. (Der Ausdruck töten war verboten; was nicht lebte, konnte nicht tot sein.) Die MK-Streitkräfte traten den ungeordneten Rückzug an, und ein baburischer Sieg schien sicher zu sein. Zu den Gefallenen gehörte der Cyborg-Puppenmacher. Zu egoistisch - zu unbeirrbar -, um weitere Repliken von sich selbst zu machen, war der Puppenmacher immer noch ein Unikat; daher war seine Art mit dem Erlöschen seiner Existenz verschwunden. Der einzige, der ihn neu erschaffen konnte, war Akasz Kronos, dessen Schicksal unbekannt war. Vielleicht hatte ihn der Mogol trotz seiner Kapitulation getötet; oder er war geblendet worden wie Teiresias und durfte, um ihn noch tiefer zu demütigen, mit der Bettelschale in der Hand umherwandern und die Wahrheit sagen, die niemand glauben wollte, während er aus allen Richtungen vom Zusammenbruch seines eigenen großen Unternehmens erzählen hörte, von der Verwandlung der großen Kronosschen Marionettenkönige, der empfindenden Cyborgs, der ersten Maschinen, welche die Grenze zwischen mechanischen Entitäten und lebenden Wesen überschritten hatten, in nichts als schäbige Schrotthaufen. Und während jetzt niemand an die Wahrheit glauben wollte, die er selbst geleugnet, blieb auch ihm nichts anderes übrig, als die Realität der Katastrophe zu akzeptieren, die er mit seiner Feigheit, seiner fehlenden Courage, selbst herbeigeführt hatte.
In elfter Stunde jedoch wendete sich das Blatt. Die Marionettenkönige scharten sich um eine neue, doppelte Führung. Zameen und ihr Cyborg-Gegenstück, die Siegesgöttin, vereinten sich, um sich wie Zwillings-Ranis von Jhansi gegen die imperialistische Unterdrückung aufzulehnen, oder wie das Braingirl in einer neuen, doppelt problematischen Inkarnation, um ihre angekündigte Revolution auszulösen. Mit Hilfe ihrer gemeinsamen wissenschaftlichen Bildung konstruierten sie elektronische Schilde gegen die neuen baburischen Waffen. Und dann startete die MK-Armee mit Zameen und der Göttin an der Spitze eine große Offensive und umzingelte die Zitadelle des Mogols. So begann die Belagerung von Baburia, die erst nach mehr als einer Generation enden sollte ...
In der Welt der Phantasie, in dem kreativen Kosmos, der mit schlichter Puppenmacherei begonnen und sich dann zu diesem vielarmigen, multimedialen Monster entwickelt hatte, war es nicht erforderlich, Fragen zu beantworten; wichtiger war es, interessante Möglichkeiten zu entdecken, wie man sie umformen konnte. Es war auch nicht erforderlich, die Story zu beenden - ja, für die Langzeitplanung des Projektes war es wichtig, daß die Erzählung für eine fast endlose Verlängerung angelegt wurde, mit neuen Abenteuern und Themen, die in regelmäßigen Abständen hineingeschrieben wurden, und neuen Personen, um sie in Puppen-, Spielzeug- und Roboterform verkaufen zu können. Die Vorgeschichte war ein Skelett, das periodisch neue Knochen bekam, der Rahmen für ein fiktives Untier, das zu einer ständigen Metamorphose fähig war, das jedes Bröckchen verschlang, das man ihm reichte: die persönliche Geschichte seines Schöpfers, Klatsch und Tratsch, intensives Lernen, gegenwärtige Affären, Hoch-und Niederkulturen, und das nahrhafteste Futter von allen - die Vergangenheit. Dieses Plündern der Bestände an alten Geschichten und antiken Sagen war absolut legitim. Die meisten Web-Nutzer waren nicht mit den Mythen, ja nicht einmal mit den Fakten der Vergangenheit vertraut; man brauchte dem alten Material nur ein neues, zeitgemäßes Mäntelchen umzuhängen. Transmutation war alles. Die Website der Marionettenkönige ging online, erreichte und hielt sofort einen hohen Level der Hits. Kommentare strömten herein, und der Fluß von Solankas Phantasie wurde aus tausend Quellen gespeist. Er begann zu schwellen und zu wachsen.
Weil die Arbeit niemals endete, niemals aufhörte, sich immer wieder erneuerte und in einem Zustand ständigen Umbruchs verharrte, war ein gewisser Grad an Unordnung unvermeidlich. Die Vorgeschichten der Personen und Orte und sogar ihre Namen veränderten sich, weil Solankas Vision von seinem fiktiven Universum klarer und schärfer wurde. Gewisse Möglichkeiten des Erzählstranges erwiesen sich als stärker, als er zunächst gedacht hatte, und wurden sehr stark erweitert. Der Zameen/Siegesgöttin-Strang war dabei der wichtigste. In der ursprünglichen Konzeption war Zameen lediglich schön gewesen und keineswegs eine Wissenschaftlerin. Als Solanka später jedoch - von Mila Milo angeregt, mußte er einräumen - begriff, wie wichtig Zameen in der klimaktischen Phase der Erzählung sein würde, machte er kehrt und ergänzte ihr frühes Leben durch viel neues Material, um sie Kronos wissenschaftlich gewachsen sowie sexuell und moralisch überlegen zu machen. Andere Wege entpuppten sich als Sackgassen und wurden ausgemerzt. In einem frühen Entwurf der Vorgeschichte stellte sich Solanka zum Beispiel vor, die vom Mogol gefangene Galileische Figur sei der Cyborg Puppenmacher, nicht der verschwundene Akasz Kronos. In dieser Version wurde die Tatsache, daß der Puppenmacher sein Recht leugnete, als Lebensform bezeichnet zu werden, ihm und seiner eigenen Rasse zum Verhängnis. Später entkam der Puppenmacher seinen baburischen Wärtern, und als sich die Nachrichten von seinem Widerruf durch die Propagandamaschine des Mogols verbreitete, um seine Führung zu unterminieren, widersprach der Cyborg heftig dieser Beschuldigung und verkündete, der in Frage stehende Gefangene sei nicht er gewesen, in Wirklichkeit sei sein menschlicher Gegenpart Kronos der Verräter an der Wahrheit. Obwohl er diese Version verwarf, hatte Solanka immer noch ein Faible für sie und fragte sich oft, ob er sich falsch entschieden habe. Schließlich fügte er, dank der Neigung des Webs zu Variablen, die ausgesonderte Story als eventuelle Alternativversion der Tatsachen der Site hinzu.
Auch die Namen Baburia und Mogol waren spätere Ergänzungen. Mogol kam natürlich von Mughal, und Babur war der erste der Mughal-Kaiser gewesen. Aber der Babur, an den Malik Solanka gedacht hatte, war kein alter toter König, sondern der designierte Führer der mißlungenen Indo-Lilly-Parade/Demonstration in New York, dem Neela Mahendra nach Solankas Meinung viel zuviel Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Die Parade hatte als armselige Veranstaltung begonnen und als Schlägerei geendet. An der Nordwestecke des Washington Square, unter den mäßig interessierten Blicken verschiedener Getränkeverkäufer, Zauberkünstler, Einradfahrer und Taschendiebe, versammelten sich ungefähr hundert Männer und eine Handvoll Frauen indisch-lilliputanischer Herkunft, deren Zahl durch amerikanische Freunde, Geliebte, Ehepartner, Mitglieder der üblichen Linksgrüppchen, sogenannte Solidaritätskader aus anderen indischen Diasporagemeinden in Brooklyn und Queens sowie die unvermeidlichen Demonstrationstouristen ergänzt wurde. Insgesamt über eintausend, behaupteten die Organisatoren; etwa zweihundertfünfzig, sagte die Polizei. Die Parallel-Demonstrationen der eingeborenen Elbees wiesen sogar noch weniger Getreue auf und gingen, ohne zu marschieren, tief beschämt auseinander. Doch kleine Gruppen aufgebrachter, ziemlich betrunkener männlicher Elbees hatten sich zum Washington Square durchgeschlagen, um die Indo-Lilly-Männer zu provozieren und den Frauen sexuelle Beleidigungen zuzurufen. Rangeleien bahnten sich an; die New Yorker Polizei, verwundert, daß ein so winziges Ereignis eine derartige Hitze entwickeln konnte, ging ein paar Minuten zu spät dazwischen. Als die Menge vor den anrückenden Polizisten floh, kam es zu ein paar schnellen Messerstechereien, von denen keine tödlich endete. Innerhalb weniger Sekunden war der Platz von Demonstranten geräumt - bis auf Neela Mahendra, Malik Solanka und einen glatzköpfigen Riesen, der, bis zur Taille nackt, mit einem Megaphon in der einen Hand dastand und in der anderen eine hölzerne Fahnenstange mit der neuen gelb-grünen Fahne der angestrebten Republik Filbistan hielt, wobei FILB für Free Indian Lilliput-Blefuscu stand und der Rest angefügt wurde, weil es wie ein Wort von zu Hause klang. Das war Babur, der junge politische Führer, der ganz von den fernen Inseln gekommen war, um vor der Versammlung zu sprechen, und der jetzt so verloren wirkte, ohne Haare und ohne Ziel, so frustriert, daß Neela Mahendra an seine Seite eilte und Solanka einfach stehenließ. Als er Neela kommen sah, ließ der junge Riese die Fahnenstange fallen, die ihn beim Fallen noch am Kopf traf. Er wankte, hielt sich aber, man muß es ihm hoch anrechnen, tapfer aufrecht.
Neela war ganz Fürsorge, offensichtlich weil sie glaubte, wenn sie Babur mit ihrer Schönheit verwöhnte, könnte sie ihn für die lange, sinnlose Reise entschädigen. Babur begann tatsächlich zu strahlen, und nach ein paar Minuten sprach er mit Neela, als sei sie das zahlreiche und politisch wichtige Publikum, auf das er gehofft hatte. Er sprach von einem Rubikon, der überquert werde, forderte keine Kompromisse und keine Kapitulation. Jetzt, da die mühsam errungene Verfassung abgeschafft und die Teilnahme der Indo-Lillys an der Regierung von Lilliput-Blefuscu so beschämend beendet worden sei, sagte er, könnten nur noch extreme Maßnahmen helfen. »Rechte werden niemals von jenen verliehen, die sie haben«, behauptete er, »sondern von denen genommen, die sie brauchen.« Neelas Augen leuchteten auf. Sie erwähnte ihr Fernsehprojekt, und Babur nickte feierlich, weil er wohl meinte, daß sich noch etwas aus den Trümmern dieses Tages retten lasse. »Komm mit«, sagte er, ihren Arm ergreifend. (Solanka sah, wie selbstverständlich sie ihren Arm durch den ihres Landsmannes schob.) »Komm. Darüber müssen wir noch stundenlang diskutieren. Es gibt so vieles, das dringend getan werden muß.« Ohne einen Blick zurück verschwand Neela mit Babur.
Auch bei Ladenschluß saß Solanka an jenem Abend noch unglücklich auf einer Bank auf dem Washington Square. Als ein Streifenwagen ihm befahl, den Platz zu verlassen, klingelte sein Handy. »Es tut mir wirklich leid, Schätzchen«, sagte Neela. »Er war so unglücklich, und es ist meine Arbeit, wir mußten wirklich reden. Außerdem brauche ich dir nichts zu erklären. Du bist ein kluger Mann. Ich bin sicher, daß du es dir schon gedacht hast. Du solltest Babur kennenlernen. Er ist so voller Leidenschaft, daß es fast unheimlich ist, und nach der Revolution wird er vielleicht sogar Präsident. Ach, kannst du mal dranbleiben, Schätzchen? Er ist am anderen Apparat.« Sie hatte von der Revolution als unvermeidlich gesprochen. Zutiefst beunruhigt dachte Solanka, der am Handy wartete, an ihre eigene Kriegserklärung. Wenn es sein muß, werde ich Schulter an Schulter mit ihnen kämpfen. Das meine ich ernst, ich werde es wirklich tun. Er betrachtete die Blutflecken, die auf dem dunkler werdenden Platz trockneten, hier in New York City Beweis für die Macht einer zunehmenden Wut auf der anderen Seite des Erdballs: einer Gruppenwut, geboren aus einer langen Ungerechtigkeit, neben der sein eigener, unberechenbarer Jähzorn von jämmerlicher Bedeutungslosigkeit und womöglich nur der Ausdruck eines privilegierten Individuums mit zu großem Ego war. Und zuviel Zeit. Er konnte Neela nicht an diesen höheren, antipodischen Zorn verlieren. Komm zurück, wollte er sagen. Komm zu mir, mein Liebling, bitte geh nicht. Aber sie war wieder am Apparat, und ihre Stimme hatte sich verändert. »Es geht um Jack«, sagte sie. »Er ist tot, man hat ihm den Kopf weggepustet, und in der Hand hielt er ein Geständnis.« Du hast die kopflose geflügelte Siegesgöttin gesehen, dachte Solanka dumpf. Du hast vom Kopflosen Reiter gehört. Gib sie auf für meinen kopflosen Freund Jack Rhinehart, die personifizierte Niederlage ohne Flügel und ohne Roß.